Ein verdoppelter Kunstbegriff
Michael Seibel • Kommentar: Wie rettet man die Kunstkritik? (Last Update: 15.09.2014)
Gertud
Koch schreibt in Texte zur Kunst (September 2014, Heft 95, S 40 ff.)
ein Statement unter dem Titel »FALSCHE VERSÖHNUNG Für
eine begriffliche und praktische Differenzierung von Kunst und Bild«.
Darin
äußert sie generelle Bedenken gegen die von ihr so genante
»neuere
Bildtheorie und Bildwissenschaft«,
die ich nicht nachvollziehen kann, da sie Ross und Reiter nicht nennt
und ich ihre Kritik in der von ihr geäußerten Generalität
falsch finde. Sie ist der Meinung:
»„Ästhetisch“
wird (...) als Term nur insoweit einbezogen, als die formalen Mittel
in ihren affektiven Wirkungen als ‚ästhetische‘
verstanden werden. Passend zum Beschreibungsmodell tritt also eine
funktionalistisch verkürzte Definition des „Ästhetischen"
auf den Plan. (...) Um den Paradoxien
des ästhetischen Urteils als kritischem Urteil zu entgehen, die
mit einem gewissen Subjektivismus, einer generellen
Unabschließbarkeit des Urteilens belastet scheinen, wird die
Eigenlogik der Kunst als einer
radikalisierten ästhetischen Transformation der Wirklichkeit und
ihrer Geltungsansprüche
in die Tonne gekloppt (...).«
Woher nimmt sie es, dass affektiven Wirkungen keine ‚ästhetischen‘
sind? Oder will sie sagen, dass nicht die affektiven Wirkungen der formalen Mittel, sondern
die Reflexion der Form das eigentlich Ästhetische ist, wie es etwa die
frühromatische
Kunsttheorie getan hätte? Man weiß es nicht.
Es
stimmt, der Rekurs auf den Bildbegriff macht, wie sie zuletzt
ausführt, das Feld der Suche nach besseren Begriffen an der
Schnittstelle von visuellen, sprachlichen und gesellschaftlichen
Ordnungen nicht kleiner. Der Vorwurf, dass damit automatisch
Kritikpotentiale aufgegeben werden, die nur klassische Kunstkritik
bietet, wird nicht ernsthaft begründet. Denn Koch benennt keinen
einzigen Punkt, an dem sich das, was sie den gegenständlichen
Kunstbegriff nennt und das, was sie unter dem Titel Bild verhandelt,
überhaupt berühren.
Der
Weg zu ihrer Polemik führt Sie jedoch über einen auf
interessante Weise gespaltenen Doppelbegriff von Kunst und Kunstwerk,
den ich in Folgendem wörtlich nehmen möchte.
»„Kunst“
ist (...) zum einen eine Verallgemeinerung, unter der alle
Gegenstände gefasst werden, die Werke der Kunst sind,
zum anderen handelt es sich um
einen gegenständlichen Begriff, der etwas fasst, was nicht aus
der offenen Liste aller gegebenen und potenziellen Werke der Kunst
entsteht, sondern eine vorlaufende Idee von der Kunst bezeichnet. Als
solche ist sie Gegenstand der philosophischen Ästhetik, die von
ihrer Logik her sich mit dem Begriff der Kunst befasst, ohne sich als
solche auf einzelne Werke beziehen oder gründen zu müssen.
Aus dieser Spannung zwischen der Kunst und den Künsten, das wäre
meine erste These,
entsteht die ästhetische Urteilskraft, die sich auf einzelne
Werke bezieht, diese aber vor dem Horizont der Idee der Kunst
entwickelt (...). Kritik, die im Modus der ästhetischen
Urteilskraft sich äußert, macht ihre kritischen
Unterscheidungen eben auch darin, zu bestimmen, inwieweit ein
einzelnes Werk oder Objekt als Kunst gelungen, gescheitert,
fragwürdig etc. ist — und in vielen mittlerweile
historisch anmutenden Diskursen wurde
die Frage, ob es sich bei einem Objekt/ Ereignis „überhaupt
noch um Kunst handle“, gestellt. In dieser Tradition der
Ästhetik wird „Kunst“ als gegenständlicher
Begriff gefasst; es gibt nicht nur die einzelnen Künste und die
einzelnen Objekte, sondern es gibt die Kunst (...).«
Was
könnte gemeint sein mit Kunst als der Verallgemeinerung einer
Vielfalt, aller Werke der Kunst, ohne dass klar ist, was Kunst ist?
Ein
Versuch. Der
Begriff „Schraube“ taugt als Sammelbezeichnung für
alle möglichen Schrauben sehr gut und das gerade deshalb, weil
er mit Frau Koch zu sprechen, gleichzeitig der »gegenständliche
Begriff« eines ein Gewinde tragenden Stiftes, der der
Verbindung mit einem Gegenstück dient, ist. Gerade deshalb
erlaubt er die Versammlung der konkreten Schrauben unter ihn als
Begriff und fundiert zugleich jedes Urteil, ob das eidos
der Schraube in einer empirischen Schraube gut oder schlecht
verwirklicht ist. Die beiden Seiten des Begriffs, Idee
und Sammelbezeichnung,
funktionieren nur zusammen.
Ein
zweites, metaphysisches und dennoch arbeitsfähiges Beispiel. Der
Begriff „Kreatur“ versammelt mühelos Mensch und
Regenwurm unter einen Begriff. Diese Versammlung funktioniert wegen
der dahinterstehenden Idee eines Schöpfers. Selbst dann, wenn
der Begriff des Schöpfers in die Krise geraten ist, mit der
verglichen die Krise des Kunstbegriffs geradezu harmlos ist.
Und
jetzt sollen plötzlich beim Kunstbegriff die Subsumtionspotenz
des Begriffs, also seine Fähigkeit, Einzeldinge unter sich zu
versammeln und sein Charakter als Idee, die Leistung, die Versammlung
zu begründen, auseinanderfallen? Wie das? Sind es plötzlich
die Einzeldinge, die Kunstwerke, die danach schreien, unter dem
Begriff Kunst versammelt zu werden wie Fahrgäste im Regen unter
dem Dach einer längst zusammengebrochenen Haltestelle?
Im
Fall der Schrauben könnte man sich auch vorstellen, jemand habe
sie einfach zusammen in eine Schublade geworfen, ohne diese mit einer
verständlichen Bezeichnung zu versehen. Ihre Zusammengehörigkeit
besteht also einfach darin, dass sie jemand zusammen in dieser
Schublade vorfindet. Ob er nun eine Antwort auf die Frage findet,
warum all diese Dinge in der gleichen Schublade gelandet sind oder
nicht, ist es eine für den Finder unhintergehbare Tatsache, dass
er sie dort gemeinsam vorfindet. Ohne sinnvollen Grund wird ihm das
Sammelsurium als Unordnung erscheinen.
Frontispiz des Hobbesschen Leviathan
Nehmen
wir weiter an, es handele sich nicht um Schrauben, sondern um
Kunstwerke und auf der Schublade stehe die Bezeichnung „Kunst“,
ohne dass jedoch unter denen, die einzelne Werke in diese Schublade
stecken, noch unter denen, die sie dort vorfinden, Einigkeit darüber
besteht, was die Bezeichnung heißen soll. Je nach den
unterschiedlichen Verwendungsweisen des Wortes Kunst wird es zu
Uneinigkeit kommen, welche Objekte in das Fach gehören und
welche nicht. Man wird sich also ebenso um Einzelurteile streiten wie
um den Inhalt des Begriffs als das dem Urteil zugrunde liegende
Gesetz. Selbst um das Wesen der Schublade wird man sich streiten,
wenn man auf die Unterschiede zwischen einer Höhlenwand, einem
Museumskeller und einem Bankschließfach aufmerksam wird.
Das
dürfte grob schematisch die Gemengelage sein, in der heute über
Kunst und Kunstwerke geurteilt wird. Dem entkommen auch die nicht,
die wie Frau Koch ihr Berufsleben lang ihre Sinne sowohl für die
Subtilität der Werke als auch für die Geschichte des
Kunstbegriffs haben schärfen können, die sozusagen den
Muskelschwund des starken Begriffs Kunst im Detail rückverfolgt
haben. Der Kunst-Diskurs hat allerdings dabei keine Alleinstellung.
Ethischen Diskursen wird es nicht besser gehen.
Rein
pragmatisch wäre eigentlich klar, was zu tun ist. Die offenbar
unterschiedlichen Begriffsverwendungen wären deutlich heraus zu
präparieren, möglicherweise zu vermitteln und
gegebenenfalls zu trennen. An die Stelle eines einzigen Begriffs von
Kunst hätten bei Unvereinbarkeit möglicherweise
verschiedene Begriffe zu treten. Der gegebenenfalls überholte
Kunstbegriff als einheitlicher Wesensbegriff wäre möglicherweise
nicht länger haltbar, wobei sich fragt, ob er überhaupt je
etwas anderes als eine Idealvorstellung war und woher dessen frühere
Kraft kam und woher der heutige Rest an Kraft. Aber das passiert
natürlich nicht. Sogleich entstünden neue Kontroversen um
Vorrangfragen. Es passiert noch nicht einmal, dass die Differenzen
zwischen einzelnen Begriffsverwendungen klar herausgearbeitet werden
und man so zwar nicht zu einheitlichen Bewertungskriterien für
Kunstwerke, wohl aber zu jeweils schlüssigen unterschiedlichen
Kriterien kommt, wie z.B. innerhalb von Konfessionen in Bezug auf den
rechten Glauben oder innerhalb von Parteien in Bezug auf die richtige
Sozialpolitik. Ich verfolge mit einem gewissen amüsierten
Interesse die Phalanx jener, die um keinen Preis bereit sind, die
längst nicht mehr haltbare Groß-Einheit im Feld der Kunst
aufzugeben und ebenso wenig, sie zu reflektieren. Gertud Koch traut
dem Kunstbegriff eine gewisse Leistungsfähigkeit zu, denn diese
ist es, die sie sogleich gegen den Bildbegriff in Schutz nehmen wird.
»Die
begriffsrealistische Variante der Ästhetik lebt, so meine
zweite These, in der Praxis
der Kritik weiter, insofern dort der Horizont der Kunst und ihrer
jeweiligen Bestimmungen maßgebend bleibt. Ob ein Objekt
als interessant, gelungen etc. in der Kritik bestimmt wird, bleibt
bezogen auf einen starken Begriff von „Kunst“«,
und das gilt auch und gerade in den Richtungen, die von der Kunst
abrücken und diese in einzelnen gerichteten Aktionen und
Emanationen in der Überschreitung auf das „Politische“,
als Zugriff auf soziale Handlungen, aus ihrer Eigenlogik
herausbrechen wollen — sie können dies nur
programmatisch im Diskurs der Kunst tun, sonst würden sie
vermutlich gar nicht mehr wahrgenommen werden im Feld praktischer
Handlungsvollzüge. In diesen sind sie eben Praktiken des
Kunsthandelns‚ dessen Performanz ihren Zielpunkt in anderen
Handlungsfeldern sucht. Kritik, unabhängig ob sie zu positiven
oder negativen Urteilen kommt, braucht auch hier die Differenz in der
Bestimmung dessen, was Kunst sein oder werden sollte.«
Der
Bezug auf den, wie Gertrud Koch es nennt, „starken“
Kunstbegriff, erlaubt also nach ihrer Ansicht sozusagen parasitäre
Verwendungen. Warum das bei politischen Aussagen in besonderem Maß
der Fall sein soll, leuchtet nicht ein. Jede Aussage, die den
„starken“ Kunstbegriff nicht bestätigt und ihn
dennoch irgendwie in Anspruch nimmt, wäre ebenso parasitär,
also ein Großteil des Kunstschaffens seit 1900. Und es bleibt
dabei vorerst ihr Geheimnis, was sie des näheren mit Bezug
genau meint.
Dass
die Spannung zwischen Werk und Idee die Kunstkritik treibt, ist eine
romantische Vorgabe, die voraussetzt, dass die Stärke des
Begriffs überhaupt noch gegeben ist, denn genau das ist ja die
Stärke, dass vom Begriff her die Erzeugnisse beurteilbar sind.
Die
Spannung zwischen Werk und Idee meint die Kraft des Kunstbegriffs zu
seinen besten Zeiten, den Frau Koch einfach fortschreibt. So wundert
es nicht, dass Gertrud Koch die Kunstwelt auch darin überschätzt,
dass sie annimmt, dass nur in ihr ein Maß an Aufmerksamkeit
erreichbar wird, das anderswo unmöglich ist. Sie scheint mir
ihre eigene Aufmerksamkeit zu verallgemeinern.
Was
eher zutrifft ist, dass die Kunstwelt in Deutschland nicht ein
besonderes Maß an Aufmerksamkeit, sondern an gesetzlichem
Schutz genießt.
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